6. Uganda – alles irgendwie Familie

Für uns in Europa ist das nur schwer vorstellbar: Eine Großfamilie mit zig Verzweigungen, die sich alle als „Brüder“ und „Schwester“ verstehen. Jemand aus der älteren Generation wird von allen „Daddy“ und „Mama“ oder auch „Mr and Mrs“  genannt. So geschieht es auch Christiane und mir!

In den vergangenen sechs Wochen haben wir Geburten und Trauerfälle in der Familie miterlebt. Heute Morgen kommt Allen, die älteste Tochter von Robinah mit ihrem kleinen Baby zu uns, das sie die Nacht zuvor im Krankenhaus entbunden hat.

Alle sind aus dem Häuschen. Der bisherige Prinz (Austin, 2 Jahre) bekommt Süßigkeiten, die wir im Wolltuch um das Baby versteckt haben, damit er es positiv aufnimmt und künftig gut behandelt.

In all dieser Tagen haben wir viel von der Alltagsarbeit mitbekommen, welche die Kinder jeden Tag zu erledigen haben. Manchmal klinken wir uns ein, etwa beim Kochen oder der Feldarbeit. Die Kinder machen all dies klaglos und mit großer Fingerfertigkeit.

Wenn die Schule ab Februar wieder beginnt, werden sie neben Schule und Hausarbeit kaum Zeit haben. Deshalb genießen sie es um so mehr mit Jasper, Christiane und mir Ball zu spielen oder irgendetwas zu bauen.

Es ist, als ob sie diese Freiheiten für sich entdecken und auch mehr untereinander kommunizieren. George und Robinah als Großeltern sind täglich so eingebunden in ihre organisatorischen Aufgaben, dass sie hierfür selten Zeit erübrigen können. Umso mehr freut es beide, die Kinder jetzt so offen zu erleben.

Wie wichtig die Fürsorge ist, wird deutlich am Beispiel von einem Mädchen (ca. 10 Jahre), das eine Woche vor unserer Ankunft vor der Schule allein aufgefunden wurde. Die Mutter kam offensichtlich mit sich bzw. dem Kind nicht mehr zurecht und hat darauf vertraut, dass George und Robinah das Mädchen aufnehmen. Nach anfänglichen Schwierigkeiten und der Tendenz, sich zurückzuziehen, spricht sie nun und wird aktiver.

George und Robinah sind darüber froh und wollen sich künftig mehr Zeit für die Kinder nehmen und diese aktiver einbinden.

 

Herrlich ist das Neujahrsfest mit denjenigen aus der Familie, die vor Ort leben (50 Personen). Nach dem Mittagessen werden lustige Spiele veranstaltet. Wer fängt zuerst sein Huhn mit bloßen Händen? Jasper tritt gegen Toni an und verliert knapp. Wir Erwachsene müssen uns in 2 parallelen Teams im Nagel-Einschlag-Spiel auf einen Holzklotz beweisen.

Zweimal fahren wir mit 15 Kindern und 6 Erwachsenen zum Nabugabo-See, der 20 km entfernt liegt. Dort haben wir das ganze Resort für uns und spielen mit den Kindern im Wasser, in das sich nur wenige Erwachsenen hineintrauen.

Alle sind mit Schwimmflügeln ausgestattet. Einige versuchen erste Schwimmbewegungen. Ehrlich gesagt habe ich keine Lust, ihnen etwas Schwimmunterricht zu geben. Wichtiger ist uns die Freude, mit allen im Wasser herumzutollen.

Dies ohne Gefahr vor Bilharziose. Auf dem See fahren zwei Ruderboote am Abend, sonst ist alles friedlich und einfach nur Natur.

Eine Hochzeit sondergleichen

Gespannt sind wir auf die Hochzeit, zu der uns ein Freund von James eingeladen hat. Die kirchliche Trauung in Masaka besteht aus einem lebendigen Wechselspiel von Gesang und Predigt, bis die eigentliche Trauzeremonie stattfindet.

Der Priester führt eindringlich vor Augen, was Mann und Frau füreinander sein sollen. „Be the best wife and best husband for one another!“ Ältere in der Gemeinde scheinen zu prüfen, ob sie das für ihre Ehe(n) eingelöst haben…

Nach dem Foto-Shooting fahren wir 30 km auf Sandpisten zum Familienhaus des Vaters von Bräutigam, wo traditionell das Fest ausgerichtet wird. Dies haben James und seine Freunde wochenlang vorbereitet.

Wir sind dort die einzigen Weißen inmitten von mehr als 1000 Menschen aus den weit verzweigten Familien- und Freundeskreisen von Helen und Charles, dem Brautpaar.

Das Gelände ist aufgebaut wie für eine Modenschau im Freien – mit vielen Plastikstühlen unter Zeltdächern mit Blick auf die Freifläche in der Mitte. Dort nimmt das Brautpaar Platz. Draußen stehen weitere 1000 Dorfbewohner, die allesamt verpflegt werden (wollen).

Es gibt viele Ansprachen, professionelle Shows und Musik. Zwei Moderatoren führen durch das Programm. Abends werden wir aufgefordert, ein Grußwort an das Paar zu richten. Wir bekommen volle Aufmerksamkeit und es gelingt, ein paar Lacher zu setzen, welche von den Moderatoren in Luganda (der Landessprache) übersetzt werden.

Hinterher wollen viele Menschen unsere Kontaktdaten haben. Ich verweise sie jeweils an James, unseren „Manager“. So haben wir unsere Ruhe und bleiben mit allen in freundlichen Kontakt.

Wir verlassen die Veranstaltung gegen 21:00 Uhr, weil sich ringsherum die Stimmung (durch Alkohol?) verändert und wir von den Dorfbewohnern komisch angeschaut werden.

Bei aller Lebensfreude sollte man nicht blauäugig sein. Armut und Depression sind vielerorts so groß, dass -hier wie überall – unter Alkoholeinfluss dumme Sachen passieren können, wenn viele junge Männer zusammen stehen und auf Fremde treffen. Also lächeln und Augen auf, während wir im Dunkeln zum Auto zurückgehen.

Ein Tag im Nationalpark Lake Mburo 

Schon vor unserer Reise hatten wir die Idee, den Kindern der Familie den Eintritt in einen ihrer Nationalparks zu ermöglichen, damit sie Wildtiere live sehen und dies als Teil ihrer Heimat begreifen.

So fahren wir am 21. Januar in einem vollen Taxi (20 Personen) zum Naturreservat Lake Mburo, der 120km im Westen von Masaka liegt. 

Robinah, Christiane, Lucky und Jovia bereiten am Vorabend eigenes Brot, Reis, Bohnen, Fladen, Gemüse und Obst vor, damit keine weiteren Kosten für die Verpflegung entstehen. Die Gesamtkosten für alles sind mit 400 € veranschlagt. Für unsere Verhältnisse ist das okay, für die Menschen hier ein Vermögen. Den Löwenanteil davon übernehmen wir.

Der Ausflug beginnt um 5:00 Uhr, nachdem die Kinder der Brüder und Schwestern bei uns angekommen sind. Auf der Fahrt erfahren wir weitere leidvolle Geschichten aus der Verwandtschaft.

Beispiel: Eine junge Cousine ist kurz nach der Geburt verblutet. Ihre Schwester, die bei Robinah die Hausarbeit macht, muss deshalb in ihr Heimatdorf nördlich von Kampala zurück. Es ist vorgesehen, dass sie sich fortan um das mutterlose Baby kümmert sowie um ihre eigenen Zwillinge, die dort bislang von der Familie zur Pflege aufgezogen wurden.

Auf der Fahrt machen wir an einer Tankstelle Rast und ich komme mit einem der Wächter ins Gespräch. Ohne Zweifel berichtet er, dass er seinem Gewehr mehrfach junge Männer erschossen hat, die nachts Überfälle auf die Tankstelle durchführen wollten. Wenn jemand nach dem Tanken ohne Bezahlung abhauen will, schießt er auf die Reifen – oder auch höher.

Hier wird also nicht lange gefackelt. Wer gegen Eigentumsregeln verstößt, muss damit rechnen, schwer verprügelt oder erschossen zu werden. Die Polizei lässt man dabei aus dem Spiel.

Via telefonischer Daten- und Geldüberweisung an einem Kiosk auf der Strecke gelingt es, uns für den Eintritt im Nationalpark anzumelden. Denn am Eingang kann nicht direkt gezahlt werden (um jede Korruption zu vermeiden).

Einmal mehr erfahren wir, dass Touristen nicht aufs Geradewohl irgendwo hinfahren und etwas besuchen können. Der Eintritt in den Park ist – genauso wie der Versuch, Geld bei einer Bank zu wechseln – bürokratisch, umständlich und selbst für die Einheimischen schwer nachvollziehbar. 

Zudem sind die Preise unterschiedlich: Menschen aus Uganda zahlen 20.000 S. (sechs Euro), Ausländer jeweils 45 $. Wenn man die Kosten für Transportfahrzeug und Verpflegung hinzu nimmt, ist es eine Menge Geld. Dies erklärt vielleicht, warum nur wenige Menschen in die Nationalparks hinein gehen. Schade! Junge Leute, die in Uganda Tourismus studiert haben, würden dies – so Jovia – ändern, doch die staatlichen Vorgaben sind strikt.

Auf der Fahrt durch den Park streiten unsere ugandische Frauen mit der Reiseführerin. Sie verstehen nicht, warum man das Parkgelände nicht erweitert, damit auch Elefanten angesiedelt werden können. Diese brauchen viel Gras, also ein größeres Gebiet.

“Wie wäre es“ so Robinah, „wenn die lokalen Menschen umgesiedelt und woanders eine neue Heimstätte bekommen würden?“. Die Führerin ist entsetzt. Sie sagt, viele aus den lokalen Gemeinden arbeiten hier im Park mit. Gerade Ältere wären keinesfalls bereit, gewaltfrei hier wegzugehen. Christiane und ich sind beeindruckt von der Art des Diskutierens auf ugandisch.

Von unserem Taxi aus beobachten wir aus allen Fenstern die verschiedenen Affenarten, Warzenschweine, jede Menge Zebras und Antilopen, dazu Büffel und Flusspferde.

Diese bleiben den ganzen Tag im Wasser, weil sie keinen Schweiß bilden können. Nur so können sie sich vor der Hitze schützen. Sie gelten als die gefährlichsten Tiere in der Wildnis.

Zu allen Tieren bekommen wir von Penny, unserem weiblichen Tourguide fundierte Beschreibungen von deren Verhaltensweisen.

Robinah lässt die Kinder auf der Rückfahrt im Chor wiederholen, was wir unterwegs gehört haben. Es ist herrlich, die Kinderstimmen zu hören und mitzuvollziehen, was sie alles aufgenommen haben.

Am meisten freut uns, dass wir eine Familie von Giraffen aus der Nähe beobachten können. Alle Tiere kommen in Zeitlupe herangeeilt, um das kleine Giraffen-Kind (vor uns?) zu schützen.  Sie kommunizieren mittels Infra-Schall, der für unsere Ohren nicht wahrnehmbar ist. Unsere Kinder sind aus dem Häuschen. Toni möchte am liebsten hinrennen und eine Giraffe umarmen, die keine 10m entfernt vor uns mit 6 m Höhe steht.

Der kleine Jovan (5) ist insgesamt so begeistert, dass er auf der Rückfahrt jedem Tier, das er aus dem Auto sieht, zuruft: „bye, bye Zebra!“. Ich sitze neben ihm, und winke gleichfalls allen Tieren zu. Wer hätte das gedacht!

Der Tag ist für alle unvergesslich und Erwachsene wie Kinder bedanken sich bei uns – quasi als Daddy und Mummie – einzeln in einer Dankesrede dafür, dass wir den Tag ermöglicht haben.

Die Rückfahrt wird zu einem Abenteuer. Die Sandpiste führt uns zu zwei Tümpeln. Den ersten nimmt unser Fahrer souverän. Beim zweiten Wasserloch sitzt das Taxi auf, obwohl wir Erwachsene ausgestiegen sind. Schon bereit, Schuhe und lange Hose auszuziehen, um das Fahrzeug aus dem Schlamm zu schieben, kann der Fahrer die Karre aus dem Schlamm heraus ans andere Ufer steuern. Dabei setzt das Fahrzeug auf einem großen Stein auf, was unschöne Geräusche produziert und sicherlich Reparaturkosten erzeugt. Doch wie sagt George: „Ein Mann trifft Entscheidungen und zieht sie dann durch.“

Nach dem  herrlich-langgezogenen afrikanischen Sonnenuntergang möchte ich nicht mehr vorne im Taxi sitzen, tue es aber dennoch, weil Jovan auf meinen Knien eingeschlafen ist. Die Scheinwerfer der entgegenkommende Fahrzeuge blenden. Denn die Windschutzscheibe ist voll Staub und reflektiert die Scheinwerfer der entgegenkommende Fahrzeuge mehrfach.

Außerdem fahren manche Fahrzeuge ohne Licht, andere überholen wild. Einige Fahrzeuge kommen uns sogar links auf unserer Seite entgegen.

Bei Einbruch der Dunkelheit rate ich Ausländern daher ab, hier zu fahren. Oder umgekehrt: Wer in Uganda Autofahren kann, kann überall fahren! Dagegen ist das Achterbahn-Fahren in einem Vergnügungspark eine harmlose, weil abgesicherte Aktivität.

Damit alle bei der Rückkehr noch etwas zu essen bekommen, bestellt Lucky unterwegs zwei Pizzen. Der Dialog könnte einer Comedy-Show entstammen. Lucky am Telefon: „Habt ihr auch vegetarische Pizza, also ohne Hühnchen?“ „Wie, ohne Hühnchen?“ „Ja vegetarisch, nur mit Gemüse.“ Die Antwort der Frau, welche die Bestellung aufnimmt: „Okay. Soll ich ein bisschen Rind drauf tun?“ „Nein, nur  Gemüse!“

Dieser Wortwechsel wird mehrfach wiederholt. Dann ist klar, dass wir eine Pizza mit Gemüse haben wollen und eine mit Hühnchen. Robinah holt sie nach der Rückkehr mit einem Motorrad- Taxi ab und Lucky erklärt uns, dass dies die einzige Pizzeria der ganzen Stadt ist.

Wir teilen beide Pizzen geschwisterlich und gehen zufrieden zu Bett. Am nächsten Morgen haben fast alle Verdauungsprobleme. Vermutlich wegen des Käses, der in Afrika unüblich ist.

Die Erinnerung an diese kleine Panne wird den tollen Tag langfristig nicht überlagern. Nun zählen alle die letzten 3, 4 Tage vor unserem Rückflug nach Deutschland traurig herunter. Wir wissen jetzt schon, dass uns allen der Abschied schwer fallen wird.

Wenn ich zu Hause bin, freue ich mich auf eine warme Dusche, auf vertrautes Essen und auf eine vernünftige Infrastruktur.

Was ich vermissen werde, ist das Lachen der Kinder, die Hilfsbereitschaft und Offenheit untereinander. Dazu die lockere Kommunikation mit nahezu allen Menschen ringsherum, egal, wo man sie antrifft. In der Schule, auf der Straße, in Geschäften usw. Dazu das angenehme Klima und die Möglichkeit, Früchte von nahezu jedem Baum zu essen.

Drehen wir die Frage herum: Inwiefern würden sich die Kinder von hier bei uns zu Hause wohl fühlen? Es wäre sicherlich anfangs schwierig, mit unserem Reichtum und der Individualität klarzukommen, welche den Gemeinschaftssinn oftmals überlagern.

Dann würden diese Kinder  von unserem Erziehungs – und Gesundheitssystem profitieren und sicherlich eine gute Arbeitsmöglichkeit finden. Davon müssten sie allerdings viel nach Uganda überweisen, eben um ihre Brüder und Schwestern bei allen Problemen und Plänen finanziell zu unterstützen.

Schön wäre, wenn wir alle über Grenzen hinweg das Prinzip des Miteinanders mehr beherzigen würden, was im folgenden Spruch zum Ausdruck kommt: „Wenn du schnell vorankommen willst, geh allein. Und wenn du weit kommen willst, gehe zusammen!“